Ich war da und das ist was ich erlebt habe

Die Autorin ist Richterin und erzählt ihre Erfahrung beim illegalen Referendum vor einem Wahllokal. Olga Bautista Camarero, 2.10.2017

1.Oktober an irgendeinem Ort in Katalonien. Ich wollte nicht, dass mir weder die einen noch die anderen die Geschehnisse erzählen. Aus diesem Grund stand ich um 8 Uhr morgens an der Ecke des Wahllokals meines Viertels. Es waren um die 200 Personen anwesend, und langsam kamen Leute jedes Alters hinzu. Nur einer trägt die estelada, bis eine andere Person ihn darum bittet, die Flagge auszuziehen und er macht es. Es gibt auch Menschen auf dem Schulhof. Das Tor ist zu, aber die Leute klettern am Zaun. Sie sind jung, manche noch Kinder.

In der anderen Ecke stehen ein paar Polizisten Mossos d’Esquadra. Sie machen nichts und schauen rum. Eine junge Frau kommt und gibt ihnen zwei weiße Nelken, diese werden entgegengenommen und in der nächsten Sekunde auf eine Bank hingelegt. Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern zwischen 5 und 7 Jahre alt gehen zum Schultor. Die Kinder ziehen Musikinstrumente raus und spielen Els Segadors. Die Menschen werden leise und einer der Mossos erzählt, dass er es atemberaubend findet. Ich kann es nicht glauben.

Der Wahlbeginn wird mit Lautsprechern organisiert. Kinder und ältere Menschen sollen sich an der Tür aufstellen und einen Gang bilden, um die Wähler zu schützen. Es gibt sogar einen achtzigjährigen, er hat einen Stuhl von zu Hause mitgebracht. Die Wähler bilden eine große Schlange. Es wird gesagt, dass man ohne Umschlag und an sämtlichen Wahllokalen und mit irgendeinem mitgebrachten Stimmzettel wählen kann. Alle informieren sich im Netz oder in den Social Media.

Ich begegne vielen bekannten Menschen, diese schauen mich erstaunt an. Ich erkläre: ich wollte es selber sehen, damit es mir keiner erklärt. Viele sind positiv überrascht und erzählen über die Aufregung als die Wahlurnen in der Nacht angekommen sind. Ich schweige.

Es sind noch 2 Minuten, bis die Wahlschule geöffnet werden soll, ich kann die Passivität der Mossos nicht verstehen, und fühle mich empört. Plötzlich erklärt jemand, dass die Polizei kommt.

Circa 5 Wagen der Nationalpolizei kommen an. Die Schlange löst sich auf und die Menschen bilden eine Gruppe vor dem Schultor. Die Menschen gehen auf die Balkone. Die Polizei nimmt Positionen ein und man hört Schreie wie „Mörder“ „Hurensöhne“ und „Wir werden wählen“. Sie versuchen, sich an das Schultor zu nähern, sie werden angeschrien und Wasser wird auf sie geworfen. Sie halten unerschrocken durch.

Die Menschen bilden eine Kette, damit sie nicht in die Schule reinkommen. Die Polizisten schießen [mit gummibällen] in die Luft. Die Kinder erschrecken sich und weinen. Es kommen Leute an, und sagen „Schämt ihr Euch nicht? Sieht ihr nicht, dass es hier Kinder gibt? Und ich frage mich: Was machen diese Kinder hier? Waren es nicht die eigenen Eltern, die ihre Kinder vor der Schule hingestellt haben ohne an deren Unversehrtheit zu denken? Ich schäme mich.

Die Polizei schaut nicht in die Augen derjenigen, die schamlos vor ihnen stehen und sie beleidigen.

Es kommen noch mehr Wagen an, die Polizisten steigen aus, und die Beleidigungen und Parolen werden lauter. Manche laufen weg, ich weiss nicht warum. Die Spannung steigt. Und zum ersten Mal in meinem Leben, identifiziere ich mich mit meinem professionellen Ausweis vor dem leitenden Inspektor und frage nach ob es Probleme geben kann. Er sagt mir, dass er die Anweisung hat, nicht anzugreifen aber er bietet mir einen Platz in einem Wagen an, falls sich die Lage zuspitzt. Ich bedanke mich dafür und erkläre, dass ich nur als Zuschauerin da bin und sie nicht bei der Arbeit stören möchte. Ich bleibe abseits des polizeilichen Absperrung.

Die Polizei bewegt sich schnell. Manche Agenten bilden einen Ring, um die Wagen zu schützen und blockieren den Eingang. Der Rest geht in die Schule, um die Urnen und Stimmzetteln zu entfernen. Und ja, es gibt einen „Verletzten“. Die Leute schreien laut „Mörder“ und weitere Beleidigungen. Sie sagen, dass „Gewalt“ gegen einen „demokratischen Akt“ ausgeübt wird.

Aus dem Tumult, kommt meine Mutter heraus. Katalanin, Verfechterin der unterschiedlichen Identität aber nicht der Unabhängigkeit. Sie ist empört und erklärt, dass der Polizist den Wahnsinnigen lange ausgehalten hat, während er beleidigt, geschubst und bespuckt wurde. Sie sagt „Ich hätte früher geschlagen“.

Die Polizisten schauen nicht ins Gesicht der schamlosen Menschen, die vor ihnen stehen und unter Beleidigungen mehr Respekt der Demokratie verlangen. Sie werfen den Polizisten „Unterdrückung“ und „Invasion“ vor. Viele, Jung und Alt, Frauen und Männer stellen sich furchtlos und nur wenige Zentimeter entfernt von den Polizisten auf, um diese anzuschreien und zu beleidigen.

Die Urnen wurden beschlagnahmt und die Gegend geräumt. Hier wird nicht abgestimmt. Die Polizei fährt zu einem anderen Konfliktpunkt.

Ein Mann lässt seine verbale Wut gegen einen Polizisten aus, und der Polizist schaut weg. Er gibt keine Zeichen aber ich vermute, dass er sein Unmut im Inneren trägt. Als der Mann müde wird und geht, schaut mich der Polizist an. Ich kann mich nicht zurückhalten und ziehe meinen professionellen Ausweis raus und erkläre ihm, dass ich sehr stolz auf ihn sei. Er lächelt überrascht und bedankt sich.

Die Polizei fährt zu dem nächsten Konfliktpunkt und ich gehe auch nach meiner zweistündigen Teilnahme an der traurigen Aktualität Kataloniens.

Ich bin empört und bin über die Wut der Menschen erstaunt. Ich habe auch Angst vor morgen und wer morgen sagt meint die Zukunft. Ich bin überzeugt, dass die Menschen nicht meine Version erzählen werden, weil diese keine Opferrollen zeigt aber ich war da und das ist was ich erlebt habe.

***Olga Bautista Camarero ist Richterin und Mitglied des Richterverbandes Francisco de Vitoria

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